14. September 2013

Epische Reise um den weissen König der Alpen

Es hat etwas gedauert, bis ich etwas zu meinem grossen Abenteuer Ultratrail du Mont Blanc (UTMB) schreiben konnte. Zu überwältigend und gleichzeitig tiefgreifend waren die Eindrücke, die ich aus diesem Rennen mitnehmen durfte. Es erscheint mir auch jetzt noch sehr schwierig dieses Rennen in Worte zu fassen, das kann ich kaum irgendjemand aussenstehendem in Worten vermitteln. Ich kann mir auch selbst noch nicht ganz erklären, wie man so etwas schaffen kann – immer noch erscheint mir vieles an dem Rennen so unvorstellbar und es fällt mir schwer zu beschreiben, was mir geholfen hat diese überwältigende Aufgabe zu meistern. Ich werde es nach vielen Rückfragen trotzdem versuchen ein paar meiner Eindrücke und Erinnerungen rund um dieses Rennen zu schildern.

Der Ultratrail du Mont Blanc über inzwischen 168 Kilometer und über 9600 Höhenmeter einmal rund um den König der Alpen hat sich in der Zeit seines Bestehens zu dem Zentrum des europäischen – vielleicht sogar weltweiten – Ultratraillaufs entwickelt. Für die Teilnahme am UTMB muss man sich erst bei anderen Ultratrailläufen qualifizieren. Wenn es dann immer noch zu viele Bewerber gibt, folgt nochmal ein Losverfahren. Am letzten August-Wochenende treffen sich dann in Chamonix all die 2300 erfahrenen Ultratrailer, die es durch dieses Anmeldeverfahren geschafft haben zusammen mit der Crème de la Crème der Profiläufer, um sich auf die epische Reise um diesen mystischen Berg zu begeben. Für mich war es schon ein Erfolg es überhaupt bis hierhin geschafft zu haben. Schon früh, als ich von diesem Lauf gehört hatte, war mir klar, dass ich hier eines Tages ebenfalls laufen wollte. Doch in den Qualifikationsrennen musste ich zuerst viel Lehrgeld zahlen, hatte mentale Tiefs zu durchstehen, so manche körperliche Schwäche oder Verletzung zu überstehen, was meinen Respekt vor diesem Lauf umso grösser machte. In den Wochen vor dem Rennen erntete ich unter Freunden und Bekannten meist nur ein ungläubiges Kopfschütteln, wenn ich von diesem Lauf erzählte. Doch wer konnte es ihnen verhehlen – ein bisschen erschien es mir ja selbst auch verrückt. Ich hatte mich aber gut auf das Rennen vorbereitet, war überzeugt davon, es trotz all der verbleibenden Unsicherheitsfaktoren schaffen zu können und war nun hier in Chamonix. Chamonix wurde seinem Ruf als die Hauptstadt der Trailläufer in dieser Woche definitiv gerecht. Nicht nur, dass es in der Stadt zahlreiche Outdoor-Läden aller bekannten Marken gibt, extra für die Rennwoche gab es zusätzlich noch eine grosse Messe mit zahlreichen schönen Dingen, die eines Trailläufers Herz höher schlagen lassen sowie einen weiteren Ausstellungsbereich, auf dem sich andere interessante Läufe präsentieren konnten. Für die Registrierung und Abholung der Unterlagen musste ich eine gefühlte Ewigkeit Schlange stehen, doch irgendwann war auch das erledigt. Am Abend dann die Ausrüstung vorbereitet, nochmal die Pflichtausstattung gecheckt und dann früh ab ins Bett. Die folgende Nacht war wichtig – musste ich doch wahrscheinlich von ihr die nächsten beiden Tage zehren. Ich schlief gut und lang, wachte jedoch mit einem leichten Kopfweh auf, das leider bis zum Rennstart nicht mehr ganz verschwinden sollte. Nach einem guten Frühstück, schlenderte ich nochmal über die Messe, gönnte mir ein gutes Mittagessen und versuchte dann ein Mittagsschläfchen, was mir leider nicht gelang. Sei’s drum. Noch ein letztes Mal die Ausrüstung geprüft, Wasser aufgefüllt und dann ab zum Start.
Startaufstellung in Chamonix
Als ich um kurz nach 3 Uhr eintraf war der Place du Triangle de l´ Amitié im Zentrum von Chamonix schon gut gefüllt. Ich setzte mich in der Mittagshitze in den Schatten der Kirche, beobachtete das bunte Treiben und genoss es einfach hier zu sein. Je näher wir dem Start kamen, umso euphorischer wurde es: die Sprecher feierten hier mit Athleten und Zuschauern eine grosse Ultratrail-Party. Ich bin nun schon bei zahlreichen Veranstaltungen am Start gestanden, aber ich kann mich nicht erinnern so eine überschwengliche Stimmung wie hier jemals vor einem Rennen erlebt zu haben. Zu der dramatischen Musik von Vangelis erfolgte dann der Start. Vorne wurde losgesprintet, bei mir im Mittelfeld war bis wir das Ortszentrum verlassen hatten mehr ein strammes Marschieren angesagt - mehr Platz war in den schmalen Strassen leider nicht. Aber hier würde sich das Rennen sicher nicht entscheiden, so übte ich mich in Geduld und arbeitete mich hinter dem Ort so gut es ging auf dem Weg nach Les Houches etwas im Feld nach vorne. Dann ging es hinauf zum erten Pass, dem Col de Voza – eine schweisstreibende Angelegenheit aber harmlos im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte.
Aufstieg zum Col de Voza
Kaum oben angekommen ging es auf einer mitunter recht steilen Skipiste hinunter nach Saint-Gervais. Na toll .. schon beim Lauf an der Zugsptze musste ich mich über Skipisten quälen – hatte ich schon mal erwähnt wie ich es hasse auf langweiligen, öden Skipisten zu laufen? Es sollte zum Glück die einzige Piste bleiben. Ich lief vorsichtig. Eine Verletzung am ersten Berg wollte ich nicht riskieren und der Weg war ja noch weit. Die Menschen im Ort empfingen uns mit lautem Beifall. Der erste Halbmarathon war geschafft und es würde bald Abend werden, so gönnte ich mir als Abendessen eine Nudelsuppe. Nach ersten Versuchen mit einem Löffel entschloss ich mich für die schnellere Variante, stürzte die Suppe hinunter und lief dann schnell weiter. Es ging erstmal moderat bergauf, dafür wurde es endlich trailiger als am ersten Berg. Als ich Les Contamines erreicht hatte, war dann schon die Nacht hereingebrochen. Ich holte im Zelt meine Stirnlampe heraus und zog mir gegen die zunehmende Kälte meine Jacke an. Um uns herum stieg währenddessen eine grosse UTMB-Party. Unter dem frenetischem Beifall der feiernden Franzosen verliessen wir den Ort wieder. Bis Notre Dame de la Gorge ging es moderat weiter. Im Val Montjoie liefen wir dann durch das enge Spalier der Zuschauer in den langen Anstieg zum Croix de Bonhomme. Aufgrund der Steigungsprozente war ich ganz glücklich, dass ich meine Stöcke schon vom Rucksack geholt hatte und konnte mit ihnen meine Beine etwas entlasten. Was unten mit steilen Felsplatten begann, wurde weiter oben zu einem richtigen Felsentrail. Hier sah man wie sich die Lichterkette der Läufer auf dem dunklen Schatten des Berges nach oben wand - ein toller Anblick. Umso höher wir kamen, umso windiger und kalt wurde es aber auch. Sicherheitshalber wurden vor dem Pass nochmal alle Läufer kontrolliert, dass sie auch ihre Jacken anhatten. Am Pass war auf einer Höhe von über 2500 Metern der erste Marathon geschafft. Ab hier ging es dann hinab ins Vallée des Glaciers zum nächsten Checkpoint Les Chapieux. Kurz nachdem ich mit dem Downhill begonnen hatte, knickte ich einmal um. Zum Glück war nichts passiert, doch kurz darauf dann ein zweites Umknicken. Ab hier schmerzte jedes weitere Auftreten. Mit den Schmerzen wurde ich unsicher und drosselte zwangsläufig mein Tempo. Fortan wurde ich vom zahlreichen Läufern überholt. Zwar ärgerte ich mich ziemlich sie einfach so passieren lassen zu müssen, aber alles andere wäre jetzt falsch gewesen – das Rennen war noch so lang und ich wollte nicht schon hier alles riskieren! Erst als wir kurz vor dem Checkpoint wieder auf so etwas wie einer Forststrasse unterwegs waren, konnte ich wieder vorsichtig traben. Am Checkpoint angekommen wurde nochmal die Pflichtausrüstung der Teilnehmer kontrolliert - Sicherheit wurde hier wirklich gross geschrieben. Hinter dem Checkpoint ging es das eigentlich wunderschöne Tal gen Col de la Segne hinauf – nur leider war es jetzt stockfinster, nicht mal der Mond war zu sehen! In meinen Gedanken erinnerte ich mich daran wie das Tal einen Monat zuvor auf meiner Mountainbiketour hier aussah. Der Untergrund der Strasse war im Moment für meinen angeschlagenen Fuss genau richtig, doch ich wusste, dass es bald am nächsten Berg schwieriger werden würde. Von der Strasse windet sich nach einiger Zeit dann ein technischer Singletrail hinauf zum Col de la Seigne. Von dem ausgesetzten Weg bot sich uns ab und zu ein Blick zurück ins Tal. Wie kleine Glühwürmchen konnte man dort am Talboden die Athleten sich langsam dem Berg entgegen arbeiten sehen. Ansonsten war von der Landschaft immer noch nicht viel zu erkennen- der Mond sollte sich erst später zeigen. Der Weg zog sich länger hinauf als ich ihn in Erinnerung hatte. An mehreren Stellen mussten wir kleinere Bäche überqueren. Während andere vorsichtig versuchten trockenen Fusses den Weg hinüber zu finden, machte ich mir wegen eines nassen Fusses keine Gedanken, denn es würden noch viele Bäche folgen und früher oder später würde jeder mal nass werden. Auf dem Pass angelangt, hielt ich kurz inne und erinnerte mich an die Aussicht hier auf der MTB-Tour vor einem Monat. Dann ging es auf einem technischen Downhill 500 Höhenmeter hinab zum Lac Combal. Der Weg war anders als ich ihn in Erinnerung hatte, offenbar hatten wir heute einen anderen Weg genommen. Nach einiger Zeit bergab spukte uns der Trail auf der Schotterstrasse am Talboden heraus. Ich war froh wieder mal flacheren Boden unter den Füssen zu haben, da wendete sich unsere Strecke plötzlich wieder in den Berg. Diesen Weg hatte ich so gar nicht auf dem Plan und aus meiner Erinnerung vollkommen verdrängt: weder war er mir damals bei der MTB-Tour aufgefallen, noch hatte ich ihn nach meinem Studium der Laufstrecke so bald nach dem Downhill erwartet. Zuerst hoffte ich, dass dies nur einer dieser kleinen Anstiege war, die nachher im Gesamtprofil kaum zur Geltung kamen und der bald zuende sein würde. Doch schnell sah ich hinter der nächsten Biegung wieder an der langen Lichterkette der Läufer, dass der Berg sich noch länger ziehen würde. Dann war das also schon der Aufstieg zum Arête Mont Favre und dem Col de Chécrouit – zumindest der letzte Anstieg vor dem Zwischenziel Courmayeur. Nochmal ein ziemlicher Brocken, aber in Courmayeur wartete auch Wechselkleidung auf mich, was mir ganz recht war, denn auf den letzten Kilometern hatte ich mich mit der Hose etwas wund gelaufen und ich war mir sicher, dass die neue Hose besser passen würde. Auch war ich ganz froh die Schuhe wechseln zu können, hatte ich nach inzwischen rund 70 Kilometern doch das Gefühl, dass diese hier doch schon ziemlich durchgelaufen waren. So verdrängte ich den Berg etwas und beschäftigte mich mehr mit Gedanken an die weitere Strategie und Organisation des Laufs.
Morgengrauen
Langsam graute der Morgen. Ich war froh, bald wieder ohne Lampe laufen und etwas mehr von der atemberaubenden Landschaft sehen zu können. Von Müdigkeit war bei mir noch keine Spur und mit dem Tageslicht wurde auch meine Trittsicherheit wieder besser. Der umgeknickte Fuss hielt und schwoll nicht an - alles gute Zeichen. Vom Gipfel ging es über 1250 Höhenmeter hinunter in den italienischen Skiort. Besonders ein enger, heftig steiler Wurzeltrail kurz vor dem Ort forderte nochmal meine komplette Aufmerksamkeit, doch auch da kam ich gut durch. In Courmayeur brauchte es in dem Trubel etwas, bis ich meinen Sack mit den Wechselsachen bekam.
Morgenstimmung über Courmayeur
Ich war froh dieses Zwischenziel in der vorgegebenen Zeit erreicht zu haben. Zwar hatte ich nach meinem Umknicken einiges von meinem Zeitpuffer, den ich mir zu Beginn erarbeitet hatte, wieder verloren. Aber ich war immer noch auf der sicheren Seite und musste nicht wegen der nächsten Zeitlimits in Panik verfallen. In der Halle zog ich mich erst mal um, ass in Ruhe und checke auf meinem Handy die Nachrichten, die ich unterwegs bekommen hatte. Die Anteilnahme am Rennen von zuhause aus und die aufbauenden Kommentare waren phänomenal! Ich fühlte zwar eine gewisse Erschöpfung, aber mit dem neu angebrochenen Tag und der Unterstützung, die ich virtuell bekam, spürte ich neue Energie für die zweite Hälfte dieser epischen Reise. Leider wartete jetzt erstmal der steile Anstieg über 800 Höhenmeter zum Refuge Bertone. Dieser saugte stark an den neu gewonnen Lebensgeistern. Ich versuchte so gut es ging die einzigartige Landschaft zu geniessen und mich damit abzulenken.
Nahe dem Refuge Bertone
Das gelang mir aber erst nach dem Refuge wieder besser, als der Anstieg geschafft war und es in Wellen gen Grand Col Ferret ging. Vor und neben uns boten sich immer wieder tolle Ausblicke auf die majestätischen Felsen und Gletscher des südlichen Mont Blanc Massivs. Auch dieses eindrucksvolle Tal war mir von der MTB-Tour noch gut in Erinnerung. Irgendwo am Ende musste das Rifugio Elena sein, in dem wir vor Überquerung des Passes eine Nacht geblieben waren. Hinter jeder Kurve suchte ich das Haus in der Ferne, doch ich sollte noch lange warten müssen bis ich es endlich sehen sollte. Denn zuvor ging es nochmal hinunter zum Talboden nach Arnuva.
Auf dem Weg nach Arnuva
Dort wurden wir angehalten nochmal ausreichend Flüssigkeit mitzunehmen, da jetzt ein zeitlich langer Abschnitt ohne Verpflegung folgen sollte. Ich füllte wie mir empfohlen wurde sowohl die Trinkblase im Rucksack wie auch meine separate Flasche auf, obwohl ich unsicher war, ob das nicht etwas übertrieben viel unnötiges Gewicht war. Dann machte ich mich auf den Grand Col Ferret zu erklimmen – wie man aus unzähligen Geschichten weiss ist das eine der Schlüsselstellen dieses Rennens. Schneller als ich mich versah war ich mitten drin in diesem erbarmungslosen Anstieg. Meine Streckenkenntnis half mir hier nur noch wenig und meine Energie schien schnell zu schwinden.
Blick in das französische Ferret-Tal
Ich hatte Schwierigkeiten einzuschätzen, wo wir genau waren und wie weit es noch war. Auf den Höhenmesser wollte ich aber nicht schauen, hätte doch die Anzahl der verbleibenden Höhenmeter mir nur einen weiteren mentalen Tiefschlag verpasst. In meinem Gedanken redete ich nun viel mit mir, versuchte mich mental wieder aufzurichten und dabei Stück für Stück dem Pass näher zu kommen. Solange ich gehen und einen Fuss vor den anderen setzen könnte, würde ich heute nicht stehenbleiben. Solange es noch einen Funken Hoffnung gab das Ziel zu erreichen, würde ich weitermachen. Das faire an Bergen ist, dass jeder noch so gemeine Anstieg mal ein Ende hat. So durchbrach ich oben nach langen Strapazen ein weiteres Mal die 2500-Meter-Grenze, bevor es abermals gen Tal ging. Fast gleichzeitig hatte ich hier auch die 100-Kilometer-Marke geknackt. Jetzt waren es auch nur noch 3 1/2 Berge, die es zwar in sich haben sollten, trotzdem klang diese Zahl in meinem aktuellen Zustand läppisch und auch erschreckend zugleich. Ich genoss, dass es endlich wieder bergab ging. Doch die Kilometer vergingen nur sehr zäh. Die Abstände zwischen den Checkpoints kamen einem nach der langen Renndauer mitunter wie eine gefühlte Ewigkeit vor. Kurz vor der kleinen Ortschaft La Fouly wechselten wir wieder auf eine Asphaltstrasse. Sofort wurde ich wieder schneller – mir sind solche Strassen zwischendurch immer recht gelegen und nicht selten kommen gerade dort dann wieder meine Lebensgeister zurück. Den folgenden recht verblockten und teilweise ausgesetzten Trail entlang der Drance hatte ich leichter in Erinnerung, als er mir nun vorkam. Trotzdem konnte ich mich an viele Stellen noch gut erinnern. Den Blick in die Landschaft sparte ich mir deshalb und konzentrierte mich darauf auf dem Weg nicht zu stürzen. Kurz hinter Praz de Fort ging es dann wieder hinauf nach Champex-Lac. Auf Schildern war der Ort recht früh angeschrieben, doch es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich auf verwinkelnten und verwurzelten Wegen durch den Wald unser nächstes Zwischenziel erreichten und die Verpflegung auffüllen konnten. Inzwischen dämmerte es. Was viel schlimmer war, war dass ich auch erstmals so etwas wie Müdigkeit empfand. Dass mir jetzt wahrscheinlich noch eine komplette Nacht bevor stand, machte es mental nicht gerade einfacher. Doch hatte ja auch keiner gesagt, dass dieses Rennen einfach werden würde. Im Laufe der letzten Stunden hatte ich gehofft, dass ich zumindest noch den berühmtberüchtigten Anstieg zum Bovine vor der Nacht schaffen würde – hart, steil und unwegsam sollte er sein. Nun war klar, dass ich es nicht mehr im Hellen schaffen würde, doch immerhin: Puffer nach hinten hatte ich immer noch genügend. Schon beim Verlassen des Ortes musste ich meine Stirnlampe wieder anschalten. Zuerst ging es auf breiten Forstwegen durch den Wald. Es bildeten sich kleine Gruppen an Läufern. Zwar wurde unter den Athleten kaum miteinander geredet, doch irgendwie wollte auch keiner zu diesem Zeitpunkt alleine unterwegs sein. So zog sich der Weg einige Zeit unspektakulär dahin, bis der Aufstieg begann. Er machte seinem Ruf wahrlich alle Ehre: was für ein Brecher! Zwar war unsere Route durchaus als Weg erkennbar, bei dem Untergrund und der Steigung konnte ich mir aber nur schwer Wanderer vorstellen, die hier tagsüber zum Gipfel wanderten. Noch viel mehr machte mir mit zunehmender Zeit mein Rücken zu schaffen, der mir seit dem Grand Col Ferret immer mehr schmerzte. Ich versuchte meine Hände unter dem Rucksack zu verschränken, ihn dabei etwas anzuheben und so meine Rückenmuskulatur zu entlasten. Dies brachte aber meist nur kurz Linderung, zumal ich meine Arme auch zur Balance und zum Abstützen in unwegsamen Geröllpassagen oder bei Bachüberquerungen brauchte. Hie und da hielt ich kurz inne und versuchte in diesen kurzen Pausen am Wegesrand meinen Rucksack auf Steinen oder Stämmen abzustellen. Doch lange dauerte die Pause nie, denn es war windig und in dieser Höhe entsprechend kühl - ich wollte nicht auskühlen. So hielt ich mich auch oben am Checkpoint nicht lange auf und setzte zügig meinen Weg bergab fort, um wieder in wärmere, tiefere Regionen zu kommen. Ich lief inzwischen mit all der Müdigkeit und den Schmerzen immer mehr in einer Art Trance. Über den Col de Forclaz  kamen wir nach einem langen Abstieg wieder in bewohntes Gebiet. Dort gab es kurz eine leichte Unsicherheit in unserer Gruppe, da wir längere Zeit keine Wegmarkierung mehr wahrgenommen hatten. Doch wir waren noch richtig und nach kurzer Zeit zweigte dann ein steiler Trail ab, der uns Minuten später in Trient wieder ausspuckte. Mit der Verpflegung an diesem Posten konnte ich wenig anfangen –von dem isotonischen Getränk, dass ich bisher zum grossen Teil getrunken hatte, wurde mir inzwischen übel und anstatt so leckeren Kaffee wie noch drüben in Italien, gab es hier eine Instantmischung. So verweilte ich nicht lange, füllte die Vorräte lediglich mit dem Nötigsten auf und verliess das Zelt nach einer kurzen Pause wieder. Am Ausgang hatten sie einen Tisch aufgebaut, an dem sich Aussteiger aus dem Rennen abmelden konnten – für mich keine Option - ich wollte trotz all der Strapazen weiter. Vor der Zeitnahme am Ortsausgang kam ich an einem Massageraum vorbei. Ich nutze die Chance und fragte, ob man mir kurz mit meinem Rücken helfen könne. Ich hatte Glück und bekam umgehend eine angenehme Massage meines oberen Rücken- und Nackenbereichs. Nach 5 Minuten ging es wieder hinaus in die Kälte – 2 Berge noch – das schaffe ich jetzt! Die Euphorie dauerte nicht lange. Wenige Meter hinter dem Massageraum stürzte ich ein paar Stufen hinab und knallte mit einem lauten Schlag an etwas wie ein Garagentor. Sofort von oben erschreckte Blicke und Rückfragen der anwesenden Zuschauer. Ich rappelte mich auf, gab kurz zu verstehen, dass nichts Schlimmes passiert war und lief schnell weiter. Der folgende Anstieg hatte wieder auf 5 Kilometer über 800 Höhenmeter. Vom Untergrund her war der Weg nun etwas besser als am Bovine, doch die Steigung erschien mir nochmal heftiger. Zumindest meinem Rücken ging es nach der Massage wieder etwas besser. Ich hatte meine Trinkblase auch nicht mehr aufgefüllt, so Gewicht am Rücken zu sparen und versuchte jetzt alleine mit der Flasche auszukommen, was sich als vollkommen ausreichend herausstellen sollte. Auf dem Weg hinauf traf man immer wieder auf Athleten, die am Wegesrand ruhten – mitunter auch zu schlafen schienen. Ich versuchte den Anstieg zu schnell wie möglich hinter mich zu bekommen - mir war es zu kalt, um hier zu rasten und ich wusste nicht wie lange ich noch gegen meine tiefe Müdigkeit ankämpfen konnte. Oben angekommen liefen wir eine Zeit lang über Weiden. Im Dunkeln konnte man das Weidevieh hören. Schliesslich ging es dann die mühsam erkämpften 800 Höhenmeter wieder hinunter ins Tal nach Vallorcine.
Morgendunst in Vallorcine
Noch ein letzter Berg wartete auf mich. Noch einmal knapp 900 Höhenmeter – tatsächlich die letzten Höhenmeter. Noch einmal Trails rauf und wieder runter. Ich wollte keinen Meter mehr einen Hügel oder sogar einen Berg hinauf, ich konnte keine dieser Knochenbrechertrails mehr ertragen und wünschte mir nur noch vernünftige Wege. Doch ich war hierher gekommen, um genau das zu erleben und diese Herausforderung zu meistern. Also jetzt kein lamentieren mehr und nur schnell weiter. Langsam dämmerte der Morgen. Mit zunehmender Helligkeit kamen bei mir die Lebensgeister wieder zurück und ich wurde auch wieder sicherer – aus dem Zombie wurde langsam wieder ein Mensch. Der Aufstieg auf den Tete aux Vents unterschied sich grundlegend zu den letzten Anstiegen. Im Gegensatz zu den Geröll- und Waldwegen vorher mussten wir nun über grössere Felsblöcke steigen und unseren Weg finden. Ab und zu gab es sogar mal so etwas wie Stufen - richtiger Luxus!
Aufstieg zum Tete aux Vents
Manch einer sah zu anderen Zeiten oben auf dem Plateau Steinböcke herumspringen. Wir nahmen hier keine wahr - ich konzentrierte mich sowieso auf den Weg und wollte auf den mitunter recht glatten Steinen nicht abrutschen und stürzen. Immer wieder gab es kleine Kletterpassagen, die vollste Aufmerksamkeit forderten. Irgendwann sah ich ein grosses gelbes Zelt – war das schon der letzte Checkpunkt vor Chamonix? Ein kurzer Hoffnungsschimmer, doch der Weg über das Felsenmeer ging noch weiter und zog sich. Unter uns im Tal knatterte einmal mehr der Helikopter vorbei. Dann kamen wir endlich nach unzählichen Kilometern im Felsenmeer an den Checkpoint. Ungefähr die Grösse eines der Felsbrocken um mich herum fiel mir hier vom Herzen, denn ab hier sollte es nur noch runter gehen. Ich setzte mich kurz, füllte nochmal meine Flasche auf. Eine Athletin fragte nach dem Weg hinunter. Laut Auskunft einer Helferin sollte Weg hinab noch über eine Stunde dauern. Das würde bedeuten, dass ich über 43 Stunden benötigen würde. Ich überlegte nach was für einer Massgabe sie diese Zahl nannte: eine Stunde für einen Wanderer, für einen schnellen Läufer oder war das ihre Zeit hier hinauf? Plötzlich war mein Ehrgeiz wieder da: mal sehen was jetzt noch geht - das lässt sich vielleicht unterbieten! Ich stürmte hinaus aus dem Zelt in den Abstieg. Zuerst liefen wir auf einer Schotterstrasse. Ich hatte Schwierigkeiten meine Beine noch vernünftig zu bewegen und hier runterzulaufen. Doch den anderen ging es offensichtlich ähnlich. Mein Ziel war sich jetzt sukzessive nach vorne zu arbeiten und damit vielleicht nochmal Zeit gut zu machen. Irgendwann zweigte unsere Route dann in einen Wurzeltrail ab. Ein kurzer Schock, denn ich wollte keine Trails mehr. Ich lief vorsichtig weiter und versuchte nicht zu stürzen. Der Wurzeltrail wollte nicht enden, doch umso länger ich dort lief, umso flüssiger wurde es bei mir und ich überholte wieder andere Athleten, die mich weiter oben erst hinter sich gelassen hatten. Uns kamen hier auch immer mehr Wanderer entgegen. Alle gingen zeitig zur Seite, klatschten und feuerten uns an. Es gab fast keine Stelle, an der man nicht unter Beobachtung stand und angefeuert wurde. Ich wurde immer schneller und sammelte einen nach dem anderen ein. Selbst ein kleiner Bach, über den sich ein Athlet vor mir mühsam wand, stellte für mich keinen grossen Grund mehr dar langsamer zu werden. Unglaublich, was hier mit mir gerade los war! Manch einer versuchte zeitweise dranzubleiben, doch die Begleiter waren immer nur temporär und blieben bald hinter mir zurück. Dann die ersten Häuser. Ich bemerkte wie mir irgendwer folgte und so kurz vor dem Ziel wohl noch überholen wollte. Ich dreht mich nicht um, sondern nutze das als Ansporn weiter zu beschleunigen. Man hörte schon den Sprecher. Inzwischen war ich gefühlt schon mit 10-km-Volkslauf-Pace unterwegs. Ich musste schon nahe dem Stadtzentrum gewesen sein als ich auf einen Spanier auflief, mit dem ich vorher schon kurze Zeit mal gelaufen war. Ihn wollte ich nicht mehr überholen und mit ihm reinlaufen. Doch er nahm sich Zeit und genoss die Atmosphäre. So gratulierten wir uns und ich lief wieder alleine weiter. Umso näher ich dem Stadtzentrum kam umso voller wurde es hinter den Absperrungen. Innerlich liefen in mir Teile des Rennens nochmal im Zeitraffer ab – mir kam es vor, als ob das nicht ein Rennen sondern mehrere gewesen sein mussten, so lange schien mir schon manches her zu sein. Ich holte immer mehr Athleten ein und wir beglückwünschten uns jedes Mal gegenseitig – in den Augen war die Erleichterung und Freude über das Finish jedes Mal zu sehen. An den Banden durfte ich unzählige Hände abklatschen – nicht nur von Kindern, auch von vielen Erwachsenen. Phänomenal was hier nach so langer Renndauer noch für eine Stimmung herrschte und wie auch Läufer weiter hinten noch angefeuert wurden! Dann bog ich ein auf die Zielgerade – sah die Kirche vor mir, vor der wir vor über 43 Stunden gestartet waren. Unter dem Zielbogen fiel es mir schwer meine Emotionen noch zu verbergen. Vermutlich kannten sie das hier im Ziel, denn sehr sensibel liess das Empfangskomitee mir Zeit mich wieder zu sammeln. Dann wurde ich beglückwünscht und bekam ich DIE berühmte Weste ausgehändigt – ich hatte es geschafft, den berühmten Ultratrail du Mont Blanc ins Ziel gefinisht und empfing die rote Finisherweste – U N G L A U B L I C H !!!

Soweit meine Zusammenfassung zu diesem unvergesslichen Lauf. Ich habe während des langen Laufes wirklich viel erlebt – viel gesehen und erlebt: viel Schönes, aber auch viel Leid. Nicht alles lässt sich beschreiben, will ich auch gar nicht. Manches werde ich vergessen, anderes wird behalten und die Erfahrung ein Teil von mir werden. Zwei Fragen habe ich seither immer wieder gestellt bekommen: war es all das wert und würde ich den Lauf nach all den Erfahrungen nochmal machen? Der Lauf war es definitiv wert erlebt zu werden und ich will die Erfahrungen nicht missen. Werde ich ihn nochmal laufen? So toll der Lauf war, so extrem fand ich ihn auch. Auch wenn ich aufgrund des Umknickens nicht so laufen konnte wie ich es eigentlich konnte und wollte, habe ich mein Ziel erreicht und bin zufrieden. Aktuell kann ich mir deshalb nicht vorstellen den Lauf noch ein weiteres Mal zu laufen, aber wer weiss .. – aber eher vielleicht eine der anderen angebotenen (kürzeren) Strecken mal, denn da sind auch ein paar Sahnestückchen dabei. Hier noch ein paar Zahlen des Veranstalters für die Statistiker: 2469 Teilnehmer sind gestartet, davon waren 223 Frauen. 1686 haben das Ziel erreicht, d.h. knapp 32% mussten vorzeitig abbrechen.

3. September 2013

Ein paar bewegte Bilder ohne viel Worte

Es fällt mir schwer den Lauf am vergangenen Wochenende in Worte zu fassen. Im Moment kommt es mir so vor, als ob nichts das wirklich beschreiben kann, was wir Athleten da erlebt haben. Deshalb lasse ich für's Erste nur mal Bilder sprechen, die man offenbar aus den ersten Teilabschnitten und dem Zieleinlauf der Sieger schnell zusammengeschnitten hat.

(Video LIVE - THE NORTH FACE® ULTRA-TRAIL DU MONT-BLANC® von UltraTrailMontBlanc)

Danken will ich auf jeden Fall schon mal allen, die mir die Daumen gedrückt haben und mich auf die ein oder andere Weise unterstützt haben - es ist toll solche Freunde zu haben!!!