17. Februar 2014

Überwindung am Brocken

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet. 
(J. W. v. Goethe) 

Seit Mitte Dezember mache ich nun schon mit einer Entzündung im Sprunggelenk herum. Seither habe ich sämtliche Rennen verworfen oder abgesagt und mich anstatt dessen primär mit Radfahren und Schwimmen fit gehalten. Aber natürlich kann keine dieser Sportarten vollständig den Bewegungsablauf und Trainingseffekt eines schönen längeren Laufs ersetzen. Als erstes Saisonhighlight für dieses Jahr 2014 rückte derweil der Wohltätigkeitsultramarathon von Göttingen auf den Gipfel des Brocken – die Brocken Challenge – immer näher, ohne dass es mit dem Sprunggelenk signifikant besser wurde. 2 Wochen vor der Challenge sagte ich deshalb sogar noch den Traditionslauf im Rodgau ab. Fast täglich wechselte mein Gefühl im Fuss von „kaum mehr Schmerzen“ bis „ziemlich übel“. Nun habe ich inzwischen schon eine recht lange Ausdauersport- und Ultralauferfahrung. Dabei entwickelt man zwangsläufig ein Gefühl für den eigenen Körper und lernt einzuschätzen, was möglich ist und was nicht. Rein nüchtern betrachtet hätte ich jedem Neuling, mit einer solchen körperlichen- und Trainingssituation geraten bei der Challenge nicht zu starten. Doch mein Gefühl und meine Erfahrung sagten mir, dass es klappen könnte. Mit den Alternativsportarten hatte ich mich halbwegs fit gehalten und zumindest bei kürzeren Testläufen merkte ich nichts vom Fuss. Mein Leitmotiv ist „Distanz ist das, was der Kopf daraus macht“. Und mein Kopf sagte mir, dass ich es schaffen würde. Mein Gefühl ebenso. Zumindest versuchen würde ich es – sollte es Probleme geben, würde ich nicht den Helden spielen und einfach an einer Verpflegung aussteigen, dann hätte ich es aber zumindest versucht. Bliebe noch der Faktor Wetter, der gerade in so angeschlagenem Zustand, eine nicht uninteressante Rolle spielt. Hier kam mir der milde Winter deutlich entgegen, da wir über einen Grossteil der 80 Kilometer meist gute Bodenverhältnisse hatten und es bis auf den Schneefall am Brocken auch recht trocken blieb. Mit Wind komme ich ja bekanntlich recht gut zurecht. Etwas Demut gegenüber der Strecke war also angebracht, Training wird meist überbewertet. 

Sonnenaufgang am Seeburger See
Der Brocken Challenge hat sich in den letzten Jahren zu einem Kultlauf entwickelt. Es gibt viele Wiederholungstäter. Irgendwas musste dieser Lauf also haben, was ihn besonders macht. Und die Vorbesprechung im Vorlesungssaal des Sportinstituts in Göttingen war schon recht ungewöhnlich. Zu Beginn wurden Bilder der letzten Austragungen gezeigt, untermalt von Gitarrenklängen und einem live im Saal gespielten Didgeridoo. Nach den einleitenden Worten wurde die einzelnen Helfer an den Stationen vorgestellt. Das aheb ich auch noch nicht erlebt, aber eine nette Geste wie ich finde. Und so viel kann ich schon vorweg nehmen, dass die Helfer am Renntag einen super Job gemacht haben! Selten habe ich so viel freundliche, hilfsbereite Helfer erlebt, die uns Läufer an so reichhaltig ausgestatteten Stationen empfangen haben – und das im kalten Februar! Dann wurde noch die Strecke mit ihren Tücken vorgestellt, ein paar organisatorische Fragen geklärt und zum Abschluss gab es noch eine kleine Verlosung von gestifteten Startplätzen für andere Veranstaltungen und Ausrüstung, die andere Veranstalter und Sponsoren zur Verfügung gestellt hatten. Zur Unterbringung hatte ich mich wie die meisten Teilnehmer in einem der vom Orgateam gebuchten Herbergen nach dem Start einquartiert. So blieb noch Zeit für einem netten Plausch beim gemütlichen Abendessen mit alten und neuen Bekannten. Um 5 Uhr morgens gab es nach einer kurzen Nacht dann unweit von meiner Herberge Frühstück im „Alten Tanzsaal“ direkt am Start. 

Erste Ausläufer des Harz
6 Uhr war Start: „lasst uns den Brocken rocken!“ Die Strecke war auf dem ersten Teil mit kleinen Fackeln markiert – ein Verlaufen war so fast unmöglich. Mit Ausnahme von einigen mehr oder minder grossen Hügeln ging es auf den ersten Kilometern verhältnismässig flach dahin – die meisten Höhenmeter warteten erst im hinteren Teil auf uns. Bei mir lief es relativ gut: den Fuss merkte ich kaum, nur der Trainingsrückstand machte sich bemerkbar .. oder war es die frühe Startzeit 6 Uhr morgens? Normalerweise bin ich ja eher ein Abendläufer. Schon bei der ersten Verpflegung (noch im Dunkeln) wurde klar, warum dieser Lauf bzgl. seiner Orga einen so guten Ruf geniesst – hier blieben kaum Wünsche offen. Die Krönung war ein leckerer Käsekuchen, den ich jedoch als grosser Käsekuchenfan nach dem ebenfalls leckeren Frühstück nun einfach nicht mehr essen konnte. So setzte ich meinen Weg nach einer kurzen Trinkpause flott fort. Unterwegs blieb immer mal wieder etwas Zeit für ein kurzes Gespräch mit den jeweiligen Begleitern. Viel los war zu so früher Stunde noch nicht. Über die Ortschaften Mackenrode, Landolfshausen und die Seulinger Warte kamen wir zum Seeburger See. Inzwischen dämmerte es und es bot sich uns ein farbenprächtiger Sonnenaufgang am noch recht klaren Morgenhimmel. So langsam wurde das Harzvorland hinter dem See auch etwas hügeliger. Über den Hellberg mit der Tilly-Eiche und die Rhumequelle kamen wir zur Marathonmarke nach Barbis. Bis hierhin lief noch alles bestens. Ich hatte mein Tempo gefunden und versuchte effiziert zu laufen – also ohne unnötige und zu frühe Anstrengung. Wenn es doch mal mühsam wurde, versuchte ich positiv zu denken. Mir war klar, dass primär der Kopf darüber entscheiden würde, ob ich heute ankommen würde oder nicht. Jetzt hinter Barbis kam der berühmtberüchtigte „Entsafter“: ein langer Anstieg durch das Steinaer Tal in den Harz. In derBesprechungen hatten sie uns noch gewarnt: „Das ist nicht einfach ein Halbmarathon, statistisch betrachtet brauchen die meisten Challenger hierfür drei bis dreieineinhalb Stunden.“
Auf dem "Entsafter"
Irgendwie hatte ich erst später mit dem Abschnitt gerechnet, so wurde mir erst weiter oben klar, dass wir nun auf diesem entscheidenden Abschnitt waren. Wie von den Veranstalter vorhergesagt, wurde es hier mit den Getränken knapp. Bei Aufstieg musste man häufiger trinken und wegen der schlechten Erreichbarkeit gab es hier nur eine kleinere Verpflegung. Doch bei den heutigen recht guten Bodenverhältnissen war der "Entsafter" gut machbar. So langsam tauchten auch die ersten grösseren Schneefelder am Streckenrand auf. Oben, hinter der Verpflegung am Jagdkopf, war auf den schneebedeckten Wegen dann Trittsicherheit gefragt; die ersten legten dort ihre Schneeketten an. Es boten sich zwischendurch ein paar schöne Ausblicke in den Harz, auf den Oderstausee und sogar in Richtung des Brocken. Im Naturpark gab es leider keine Wegmarkierungen der Challenge mehr, da diese von der Naturparkbehörde nicht genehmigt worden waren. So orientierten wir uns an den normalen Wegmarkierungen oder manch einem an den GPS-Tracks.
Blick auf Harz mit dem Oderstausee
Vor Oderbrück war ein Abzweig, auf den wir vorher besonders aufmerksam gemacht wurden. Ich war zu diesem Zeitpunkt alleine und glaubte ihn richtig zu nehmen, war in Folge dann aber doch unsicher, da die Wege und Schilder nicht eindeutig waren und ausserdem weder vor noch hinter mir irgendwelche Läufer zu sehen waren. Spuren gab es viele in viele Richtungen und es waren auch keine Spaziergänger in der Nähe, die man hätte fragen können. Ich traf nach einiger Zeit auf ein paar Häuser und hoffte, dass es Oderbrück sein würde. Aus einem Gebüsch an der Seite kam ein Läufer und fragte mich nach dem Weg – offenbar hatte auch er die Orientierung verloren. Zum Glück konnte ich ca. 200 entfernt ein Schild sehen, dass auf die nächste Verpflegung hinwies – wir waren also richtig. Hinter der Station begann der letzten Anstieg hoch zum Brockengipfel nun waren es „nur“ noch knapp 8 km mit rund 350 Höhenmetern. Hier machte der Naturpark seinem Namen alle Ehre. Fast urwaldartig lag die Natur rechts und links des Weges. Teils waren Sturmschäden zu erkennen. Auf dem Weg hier traf man nun häufiger auf Wanderer. Weiter oben kamen wir dann an die Trasse der Brockenbahn – eine alte Schmalspurbahn mit Dampflok, die hier regelmässig fährt. Leider sollte ich die Bahn nur zu hören, aber nicht zu sehen bekommen.
Schneetreiben beim Aufstieg
Inzwischen hatte es nämlich angefangen zu schneien und der Nebel wurde nach oben immer dichter – das Wetter am Brocken ist fast schon legendär. In Wikipedia steht: „Der Brocken ist ein Ort extremer Wetterbedingungen. Aufgrund der exponierten Lage im Norden Deutschlands liegt sein Gipfel oberhalb der natürlichen Waldgrenze. Das Klima auf dem Brocken entspricht aufgrund des kurzen Sommers und sehr langen Winters, der vielen Monate mit geschlossener Schneedecke, der schweren Stürme und niedrigen Temperaturen selbst im Sommer einer alpinen Lage in 1.600–2.200 m Höhe beziehungsweise dem Klima Islands.“ Es wurde wirklich mühsam. Ein Wanderer fragte mich „wie fühlst Du Dich?“ Ich war glücklich, dass ich es bis hier hin geschafft hatte, dass mein Fuss nicht geschmerzt hatte und antwortete, dass ich einfach nur froh war hier zu sein. Nie hatte ich daran gezweifelt, aber in Anbetracht der Vorbereitung war es echt verrückt! Ein wenig musste ich auch über mich Schmunzeln – während des Rennens merkte ich mehrfach wie sehr das letzte Jahr und insbesondere der Ultratrail du Mont Blanc mich geprägt hatten. Mit einer nie vorher da gewesenen Sicherheit war ich heute unterwegs und wusste immer, dass ich auch dieses Rennen zu einem erfolgreichen Abschluss bringen könnte. Das war keine Überheblichkeit, sondern ein tiefes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Auch das eine Form von „Glück“, die ich hier empfand. Als ich auf den letzten Metern hoch zur Station war, wurde das Wetter immer ungemütlicher: der kalte Wind bliess mir in starken Böen den Schnee direkt ins Gesicht. Am Ziel konnte ich wegen der Schneeböen keine 15 Meter mehr weit sehen, ein paar Gestalten bewegten sich hier oben herum, aber ich konnte beim besten Willen nicht mehr erkennen, ob das Läufer oder Wanderer waren; so lief ich lief dem Applaus und den Rufen von einigen entgegen. Dann das Finish, Gratulationen. Ich bat zu guter Letzt um ein Zielfoto, das aber nur schlecht gelang, da sich gleich Schnee auf das Objektiv der Kamera geblasen wurde. Eine Helferin führte mich nach drinnen. Als ich den Saal betrat, applaudierten mir alle Anwesenden (wie übrigens auch allen, die später noch kommen sollten). Was für eine tolle Geste – das ist Ultramarathon: hier zählt weniger die Platzierung als das Ankommen und das gemeinsame Erlebnis! Eine warme Dusche und ein leckeres Essen mit ein paar schönen Unterhaltungen warteten auch mich, dann ging es gen Abend wieder zurück gen Göppingen.
Gipfelturm

Der Brocken Challenge war für mich wirklich eine Herausforderung: aufgrund der Verletzung und der damit einhergehenden suboptimalen Vorbereitung, war das ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Doch meine Erfahrung und mein Gefühl gaben mir recht und es klappte besser, als ich vorher erwartet hatte. Gegen Ende wanderte ich bergauf mehr als dass ich noch lief, aber das war in Anbetracht der Umstände so in Ordnung. Die Challenge ist auf jeden Fall eine tolle Veranstaltung. Fast schade, dass hier aufgrund der Durchquerung des Naturparks nicht mehr Läufer zugelassen werden können. Auf der anderen Seite bewahrt diese Kontingentierung aber vielleicht den familiären Charakter und die Freundlichkeit der Veranstaltung. Sicher gibt es schönere, spektakulärere Ultramarathons. Doch bei so viel Gastfreundlichkeit und Charme kommt man als Läufer gerne hierhin wieder zurück. Zumal man hier mit dem Laufen bzw. dem Startgeld auch etwas für einen guten Zweck tun kann.